Die elf Teilnehmer haben unterschiedliche Erfahrungen mit dem Gefühl der Hilflosigkeit gemacht, das sie hier loswerden wollen. Elisabeth Geuer ist 16 Jahre alt und kam mit einem offenen Rücken zur Welt. Bevor sie mit der Selbstverteidigung begann, drohte ihr eine Elfjährige, ihren Rollstuhl umzuwerfen. "Das wäre nicht schwer gewesen", erinnert sie sich. Ihr Bruder kam zur Hilfe, jetzt will sie lernen, sich selbst zu helfen.
Henning Schulze wird wütend, wenn er erzählt, wie Mitschüler ihn auf dem Pausenhof verprügelt haben. "Seitdem habe ich mir felsenfest vorgenommen, Abwehrtechniken zu lernen." Damals war er 16, heute ist er 25 Jahre alt - aber die Wut ist noch da, wenn er auf das Polster in der Hand von Nils Thate boxt.
Mit Schnelligkeit punkten
Thate führt eine Selbstverteidigungs-Schule in Bremen. Seit 20 Jahren unterrichtet der muskulöse Kampfsportler immer wieder Menschen im Rollstuhl, die Nachfrage steigt. In Langenhagen ist er zum dritten Mal, mit seinem Co-Trainer führt er die Schläge vor. "Eigentlich ist es keine besondere Technik", erklärt er. Es gehe darum, die Kraft des Gegners gegen ihn zu richten, durch Schnelligkeit zu punkten, ihn zu überraschen.
Der Kampf im Rollstuhl hat Eigenheiten: Der Stuhl rollt zurück, wenn ein Schlag von vorn kommt. Die Gegner begegnen sich nicht auf Augenhöhe - im wörtlichen Sinn. Die Teilnehmer sollen deswegen lernen, brenzlige Situationen gar nicht erst entstehen zu lassen.
"Wichtig sind Körperhaltung und Gestik, dass man nicht ängstlich wirkt und eine laute Stimme hat", erklärt Ulrike Kriebel. Sie ist zweite Vorsitzende der Rollstuhlsportgemeinschaft Langenhagen, organisiert die Kurse und nimmt selbst teil. "Schon dass ich bestimmte Dinge weiß, gibt mir ein besseres Gefühl", erzählt sie.
Auch Kampfsport ist gefragt
Der Verein hat Thate als Trainer engagiert, nachdem ein 15-jähriges Mitglied innerhalb einer Woche zweimal angegriffen worden war. Das Landeskriminalamt führt keine Statistik darüber, wie häufig Menschen im Rollstuhl Opfer von Gewalt werden. Holger Liedtke, Autor des Buchs "Selbstverteidigung für Rollstuhlfahrer" und Trainer für behinderte Menschen in Bremerhaven, vermutet, dass die Dunkelziffer hoch ist. "Das ist für unsere Arbeit aber auch unwichtig", fügt er hinzu - schließlich sei es bei einem Angriff egal, ob man zu einer häufig attackierten Minderheit gehöre.
Nicht nur Selbstverteidigung, auch Kampfsport betreiben immer mehr Rollstuhlfahrer, sagt Helmut Gensler, der beim Deutschen Rollstuhl-Sportverband für Kampfkünste zuständig ist. Mehr Selbstvertrauen sei nicht der einzige positive Effekt: "Viele Übungen sind mit einer Therapie vergleichbar, sie fördern den Aufbau von Muskeln und die Koordination."
Auch in Langenhagen zeigt Thate den Kursteilnehmern, wie sie mit flexiblen Bändern ihre Arme trainieren können. Die Kurse sollen im neuen Jahr regelmäßig alle sechs Wochen stattfinden, das Interesse ist groß. Der 15-Jährige aus dem Verein sei ein drittes Mal attackiert worden, erzählt Ulrike Kriebel. "Aber diesmal konnte er sich wehren."