Fallbeispiel: Eine 28-jährige Studentin bemerkt seit drei Tagen eine zunehmende Sehstörung auf einem Auge. Sie hat das Gefühl durch eine Milchglasscheibe zu blicken. Bald kann sie mit dem Auge nahezu nichts mehr erkennen. Zunächst sucht sie einen Augenarzt auf, der sie schon bald zum Neurologen weiterschickt. Dieser äußert nach einigen Untersuchungen den Verdacht auf eine Multiple Sklerose.
So oder ähnlich beginnt manchmal die Krankheitsgeschichte bei Multipler Sklerose. Sie ist eine der häufigsten neurologischen Erkrankungen im jungen Erwachsenenalter.
Bei der Multiplen Sklerose (MS, lateinisch multiplex = vielfach; griechisch skleros = hart) handelt es sich um eine chronisch-entzündliche Erkrankung des zentralen Nervensystems. Sie kann das Gehirn, das Rückenmark sowie die Sehnerven befallen.
Was Multiple Sklerose ist, erklärt auch unser Video:
Als Ursache dieser Erkrankung wird eine Autoimmunreaktion, das heißt, eine Fehlregulierung des Immunsystems angenommen: Entzündungs- und Abwehrzellen des Körpers greifen fälschlicherweise körpereigene Strukturen an. Dabei spielen sogenannte T- und B-Zellen sowie bestimmte Botenstoffe eine entscheidende Rolle. Dies führt zu einem Abbau der Hüllschicht von Nervenfasern (Myelinscheiden) und schädigt die Nervenfasern. In den betroffenen Fasern werden Nervenreize schlechter oder gar nicht mehr weitergeleitet. Denn die Schutzhüllen umgeben die Nervenfortsätze wie eine Isolierschicht ein elektrisches Kabel. Sie sind unerlässlich dafür, dass die Nervenimpulse mit einer adäquaten Geschwindigkeit an den gewünschten Ort gelangen.
Wie Multiple Sklerose genau entsteht, ist bis heute nicht vollständig verstanden. Ärzte vermuten, dass viele Faktoren zusammentreffen. Am häufigsten kommt MS in den kühlen Klimazonen vor (Mittel- und Nordeuropa, USA, Südkanada, Südaustralien, Neuseeland), sodass Umweltbedingungen an der Entstehung einer MS beteiligt zu sein scheinen. In Deutschland leiden nach Schätzungen etwa 200.000 Menschen an einer Multiplen Sklerose. Mehr zu möglichen Auslösern lesen Sie im Kapitel Ursachen.
Neben dem Versuch, die Ursache und den exakten Verlauf der Multiplen Sklerose zu verstehen und eine Prognose über den wahrscheinlichen Erkrankungsverlauf zu erhalten, ist die Entwicklung einer optimalen, auf jeden Patienten individuell zugeschnittenen MS-Therapie vorrangiges Forschungsziel. Dieses Ziel beinhaltet mehrere Schritte:
Multiple Sklerose kann fast jedes neurologische Symptom auslösen, sodass die Krankheitsgeschichte bei verschiedenen Menschen oft sehr unterschiedlich aussieht. Das gilt für den zeitlichen Verlauf sowie die Schwere und Ausprägung der Beschwerden. Man nennt die MS daher "die Krankheit mit den vielen Gesichtern". Sie kann zum Beispiel Muskelschwäche oder Lähmungen, eine Minderung der Sehschärfe bei Beteiligung der Sehnerven (Optikusneuritis), eine krampfhafte Erhöhung der Muskelspannung (Spastik) sowie Gefühlsstörungen oder Missempfindungen hervorrufen. Genaueres zu möglichen Anzeichen lesen Sie im Kapitel Symptome.
Wie eine MS verläuft, ist im Einzelfall nicht vorhersehbar. Am häufigsten beginnt die Krankheit zunächst in Schüben (schubförmig remittierender Verlauf). Das heißt, es entwickeln sich episodisch Krankheitssymptome, die sich nach einem gewissen Zeitraum spontan oder unter einer Schub-Therapie zurückbilden – ganz oder zumindest teilweise. Bei etwa 40 Prozent der Patienten geht der schubförmige Verlauf nach circa zehn Jahren in einen fortschreitenden Verlauf (SPMS) über. Seltener ist die von Anfang an chronisch fortschreitende (progrediente) Form. Dabei nehmen die Funktionsstörungen stetig zu (siehe auch Kapitel Verlaufsformen).
MS betrifft zu 70 Prozent Frauen. Bei den meisten zeigt sich die Krankheit erstmals im Erwachsenenalter zwischen 20 und 40 Jahren (Gipfel bei 30 Jahren). Selten tritt Multiple Sklerose schon im Kindesalter oder erst im späten Erwachsenenalter auf.
MS ist nicht heilbar, aber durch moderne medikamentöse Therapieansätze gut zu behandeln. Die wichtigsten Therapieziele sind, Schübe zu verhindern, den Eintritt einer Behinderung zu verzögern und ihr Fortschreiten zu verlangsamen oder zu stoppen. Das soll die Selbstständigkeit und Lebensqualität des Betroffenen erhalten. Genauere Informationen finden Sie im Kapitel Therapie.
Dr. med. Joachim Havla ist Facharzt für Neurologie am Institut für Klinische Neuroimmunologie (Direktoren: Professor Dr. R. Hohlfeld, Prof. Dr. M. Kerschensteiner) der Ludwig Maximilians Universität München. Der klinische Schwerpunkt des Instituts liegt in der Beratung und medizinischen Betreuung von MS-Betroffenen, der Anwendung und Entwicklung moderner Therapiekonzepte, der Durchführung klinischer Studien sowie der Erforschung der MS-Ursachen in Zusammenarbeit mit dem Biomedizinischen Centrum (BMC) der Ludwig Maximilians Universität München. Das Institut ist aktives Mitglied im Kompetenznetz Multiple Sklerose.